Gerbert von Aurillac – † 12.Mai 1003

von Hans -E. Korth
erschienen in Zeitensprünge 1/2003, 209-221


Staune nicht, dass die Trägheit des törichten Pöbels,
die nie sich an die Wahrheit gekehrt, als Zauberer mich verschrien,
weil
ich des Archimed's Kunst und die Lehre der Weisheit betrieben.
Damals, als man nichts wissen zum Ruhme gezählt,
galt ich den Rohen als Zauberer; doch es verkündet mein Grabmal,
das ich im frommen Sinn, treu und in Ehren gelebt.

Epitaph auf Gerbert v. Aurillac  [Verf.: Abraham Bzovius, 1565-1635]


Abstrakt: Der Naturwissenschaftler und Philosoph auf dem Papstthron war nicht nur der Ausbilder einer ganzen Generation von Gelehrten, sowie der Verbreiter vielfältiger neuer Techniken, er war vermutlich auch die Schlüsselfigur der Chronologierevision des Millenniums.

Im Lateranpalast ging vor nunmehr einem Jahrtausend das Leben von Papst Silvester II zu Ende, der als Gerbert von Aurillac zum wohl größten Gelehrten des 10. Jahrhunderts geworden war1.

Sein genaues Geburtsjahr ist unbekannt. Es heißt, dass er um das Jahr 940 n.Chr. als Kind einfacher Leute in der Auvergne nahe Aurillac geboren wurde. Nach dem frühen Tod seiner Eltern nahmen sich die Benediktinermönche des Klosters von Aurillac seiner an. Der überaus gescheite Knabe wurde zum Stolz des Abtes Géraud und seines Lehrers Raimond. Mit beiden blieb er zeitlebens freundschaftlich verbunden.

Als Junger Mann gelangte Gerbert zu weiteren Studien an den Hof Borells, des Herzogs von Katalonien. Vermutlich weckte der gelehrte Mönch Joseph im Kloster Ripoll seine Neugierde auf Mathematik, Astronomie und die Welt des Islam2.

Seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Mathematik und der Zahlen (die Propagierung der 9 (!) indisch/arabischen Ziffern, die das Rechnen ungemein erleichtern, sowie des Abacus wird ihm zugeschrieben) fasste er in diesen Jahren in einer eindrucksvollen Schrift zusammen, die ausgehend von den Maßeinheiten, Rechenkunst, Geometrie und Trigonometrie verband.

Im Jahre 962 ergab sich für Gerbert die Gelegenheit, seine Förderer Borell und Bischof Hatto nach Rom zu begleiten. Bei dieser Gelegenheit lernte er nicht nur den Papst Johannes XIII und viele andere bedeutende Persönlichkeiten kennen, sondern auch Kaiser Otto I, seine Gemahlin Adelheid, sowie deren Sohn, den späteren Otto II. Die Kenntnisse des jungen Mannes auf vielen Gebieten der Wissenschaften erweckten allseits Erstaunen.

Durch Vermittlung von Geranus, dem Erzdiakon von Reims übernahm Gerbert die dortige Gelehrtenschule und führte sie in kurzer Zeit zu höchstem Ruhm. Sein Wissen, seine scharfsichtige Logik, seine Begeisterungsfähigkeit und nicht zuletzt seine Menschlichkeit werden als Gründe dafür genannt. Die Ausbildung basierte auf den Werken des Aristoteles und seiner Interpreten und umfasste zunächst Grammatik, Logik und Rhetorik um darauf mit Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik aufzubauen. Für diese Studienordnung bürgerten sich später die Begriffe Trivium und Quadrivium ein.

Die Rivalität der Schulen von Magdeburg und Reims hatte schließlich eine Herausforderung Gerberts durch den magdeburger Domscholastiker Otrich zur Folge. In Ravenna fand in Anwesenheit des Kaisers ein philosophischer Disput statt, der den ganzen Tag über währte und schließlich vom Kaiser zugunsten Gerberts abgebrochen wurde.

Bald darauf erreichte Gerbert die Ernennung zum Abt und Lehensherrn von Bobbio im nördlichen Appenin. Diese Abtei besaß weite Ländereien, befand sich aber aufgrund der Unfähigkeit und Korruption der Amtsvorgänger, die große Teile der Einkünfte bereits verpfändet hatten, in einem desolaten Zustand. Bei seine Ankunft fand Gerbert die Wohnung des Abtes leer geräumt vor, da das Mobiliar vorgeblich als Almosen an Bedürftige gegeben worden war.

Gerberts Versuche die Klosterdisziplin wiederherzustellen und den wirtschaftlichen Ruin abzuwenden stießen auf erbitterten Widerstand. Nach kaum einem Jahr musste er aufgeben3. Mit wenigen Getreuen floh er nach Reims, wo er seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm. Daneben diente er auch dem Erzbischof Adalbert, der ein enger Freund geworden war, als Helfer und Berater und wurde schließlich von diesem als Nachfolger auf dem Bischofsstuhl nominiert. Nach dem Tode Adalberts wurde Dieser Wunsch jedoch von den Bischöfen ignoriert und so wurde der junge Arnulf, ein Sohn König Lothars, durch Protektion des Königs Hugo Capet neuer Amtsinhaber. Gerbert war diesem zunächst bei den Amtsgeschäften behilflich. Wenig später wurde durch Verrat von Arnulfs Vertrautem Adalger die Stadt Reims durch Karl von Lothringen eingenommen und verwüstet. Gerbert verlor all seine Habe und entging mit knapper Not dem Tode. Das Verhältnis zu Arnulf verschlechterte sich so sehr, dass Gerbert diesem schließlich die Lehenstreue aufkündigte, Reims verließ und sich an den französischen Königshof begab.

Zu Beginn des Jahres 991 wurde Arnulf wegen seiner Verfehlungen auf der Synode von St. Basles angeklagt und nach langem Verfahren seines Amtes enthoben und eingekerkert. Gerbert, der das Prozessprotokoll geführt hatte, wurde wurde zum neuen Erzbischof ernannt. Anlässlich seiner Konsekrierung verlas Gerbert sein persönliches Glaubensbekenntnis:

Ich Gerbert, durch Gottes zuvorkommende Gnade bald Erzbischof von Reims, bekunde vor Allen meinen Glauben in einfachen Worten, das heißt, ich bekenne den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist als einen Gott, und das die ganze Gottheit in der Dreieinigkeit gleich an Wesen, Substanz, Ewigkeit und Macht. [...] Ich glaube, dass ein Urheber, Herr und Gott des alten und neuen Bundes; dass der Teufel nicht von Natur, sondern aus freiem Entschluss böse geworden. [...] Die Ehe verbiete, die zweiten Heiraten verdamme, den Gebrauch des Fleisches untersage ich nicht. Dass man mit den der Kirche versöhnten Büßern Gemeinschaft pflegen müsse; dass in der Taufe alle Sünden, sowohl die am Anbeginn zugezogenen, als alle freiwillig begangenen, erlassen werden; dass außerhalb der katholischen Kirche niemand gerettet werden können, glaube und bekenne ich. Die vier heiligen Konzilien, welche die allgemeine Mutter, die Kirche bestätigt, bestätige auch ich.“4

Wenig später wird die Ernennung Gerberts vom Papst und mehreren Bischöfen angefochten. Auf der Synode von Mouzon kann sich Gerbert gegen alle Vorwürfe verteidigen. Trotzdem soll ihm die Teilnahme an den Sakramenten verwehrt werden. Die Anfeindungen setzen sich fort.

Wie gerufen kommt ihm die Einladung des 14-jährigen Otto III, als sein Lehrer und Berater (auch in Fragen der Politik) nach Magdeburg zu kommen. Auch hier rufen Gerberts umfassenden Kenntnisse Erstaunen hervor: Mit Hilfe eines seiner selbst gebauten Astrolabien gelingt ihm die präzise Justierung einer Sonnenuhr. Er begleitet seinen Schüler Otto auf dessen Feldzug gegen die Slaven. Wenn Zeit bleibt, werden philosophische Fragen diskutiert und Pläne für die voraussichtlich lange Regentschaft Ottos geschmiedet5,6,7. Im Frühherbst 9958 bricht Otto III mit großem Gefolge zu seiner Krönung als Kaiser nach Italien auf. Gerbert verfasst auf diesem Zug eine philosophische Schrift Über die Vernunft und den Gebrauch der Vernunft, die er seinem Schüler widmet. Darin geht es um die Frage, ob dem Speziellen oder dem Allgemeinen die höhere Bedeutung zukommt.

Seine angegriffene Gesundheit beklagt Gerbert wenig später in einem Brief an die Kaiserin Adelheid: „Meine Tage sind vorüber, oh süße und glorreiche Herrin, das Alter droht mir mit dem Ende. Ein Brust-stechen nimmt die Seiten in Anspruch, es sausen die Ohren, rinnen die Augen, mein ganzer Leib ist immer während wie von Stacheln zerstochen, das ganze Jahr habe ich das Bett gehütet, und nun, da ich kaum aufgestanden, peinigt mich ein zweitägiges Wechselfieber.“

In Ravenna erhält Otto III die Nachricht vom Tode des Papstes. Als Nachfolger schlägt er dem Bischofskollegium mit einigem Nachdruck seinen Vetter Brun von Kärnten vor, der dann auch als Gregor V gewählt wird und seinerseits wenige Wochen später Otto III zum Kaiser krönt.

Abb.1
Abb. 1 Chronologie der Jahrtausendwende

Nach der Abreise steht Gerbert dem jungen Papst noch einige Zeit zur Seite, bevor auch er Rom verlässt. Wenig später wird dieser durch die römischen Faktionen unter Führung des Crescentius vertrieben und durch Johannes XVI als Gegenpapst ersetzt. Brun ruft Otto III zu Hilfe, der allerdings erst im folgenden Jahr eintrifft. Trotz der Fürbitte seiner Berater und des greisen Nilus v. Rossano läßt Brun seinen Gegner der Zunge und aller Sinne berauben und ihn rückwärts auf einem Esel sitzend zur Absetzung durch Rom treiben9. Otto III lässt die römische Führung in der Engelsburg belagern und hinrichten.

Zu dieser Zeit tritt Gerbert sein neues Amt als Erzbischof von Ravenna an. Hier engagiert er sich für die Disziplin der Geistlichkeit und verfasst eine Schrift gegen die Simonie, den korrumpierenden Ämterkauf.

Ein Jahr darauf stirbt der kaum 30-jährige Papst Brun plötzlich – zur Zufriedenheit seiner Feinde. Nun (am 2. April 999) wird Gerbert zum neuen Papst erhoben und nimmt den Namen Silvester II an (womit er sich auf Silvester I, den Freund und Vertrauten des großen Konstantin bezieht). Im folgenden Jahr hat das neue Jahrtausend begonnen (Abb. 1). Überraschenderweise haben sich anscheinend weder Gerbert noch die Bischöfe zur Jahrtausendwende geäußert. Statt dessen läßt Gerbert (wie Hock unter Bezug auf die Papstgeschichte des Abraham Bzovius berichtet) erstmals ein Säkularfest feiern. Durch diese Maßnahme hält er die Chronologiefrage offen10. Gleichzeitig verschafft er dadurch der Kirche die Kontrolle über die Jahreszählung, da sich der Termin des nächsten Säkularfestes nur durch vorausschauende Zählung bestimmen lässt. Den Überlegungen seiner Schrift zum Vernunftgebrauch folgend macht er (als erklärter Nominalist) damit die Jahreszahl vom Attribut zur chronologischen Einordnung zum eigenständigen Subjekt11.

Auf Anregung des Odilo von Cluny >nimmt er das Allerseelenfest in den kirchlichen Festkalender auf. Anders als bei allen anderen Festen steht hier nicht die kirchliche Lehre im Vordergrund. Dieses Fest bezeugt das Mitgefühl mit dem einzelnen Menschen in seiner persönlichen Trauer über die dahingegangenen Angehörigen.

Abb.2
Abb. 2: Die Tafel von Ravenna bezichtigt Otto III. 'schwerer Verbrechen'

Nach Abschluss seines Zuges, der den nun 20-jährigen Otto III nach einer Bußwallfahrt (Abb. 2) bis nach Gnesen, an das Grab seines Mentors Adalbert führt, kehrt Otto nach Rom zurück. Er will die Stadt zum Zentrum des erneuerten römischen Reiches ausbauen. Zunehmend zeigt er einen imperialen Habitus. Mit der Witwe des von ihm hingerichteten Crescentius beginnt er ein Verhältnis - so wird jedenfalls gemunkelt. Ein Aufstand der Römer zwingt Otto und seinen Schützling Gerbert zur Flucht aus Rom. Otto erkrankt an einem Fieber und stirbt wenige Tage darauf in Paterno12. In einer Nacht-und-Nebelaktion wird der Leichnam Ottos über die Alpen gebracht. Dort fängt sein Vetter Heinrich den Zug ab und erklärt sich zum Nachfolger.

Gerbert kann nach Rom zurückkehren, wo er sein letztes Lebensjahr verbringt. Resigniert vertieft er sich in die Amtsgeschäfte (darunter die Einbeziehung Polens und Ungarns in die Kirche) und in seine Bücher. Als er am 12. Mai 1003 stirbt, ist er ein von seinen Mitarbeitern verehrter, vom Volk respektierter Repräsentant der Kirche. Seine Nachfolge tritt Sicco, eine Marionette des Johannes Crescentius an.

Es ist nicht leicht, die Auswirkungen von Gerberts Wirken in ihrem ganzen Umfang zu bewerten. Kaum ein Anderer hat auf derart vielen Gebieten zum Fortschritt beigetragen. Sein ungeheures Wissen enthob den Papst allen Zeitgenossen, so dass sich die Legende seiner bemächtigte, ihn zum Urbild des Faust und [...] zum großen Magier erklärte [Kühner, 1990]. Auch wenn sich die Pläne Gerberts und Ottos zu einem neuen Weltreich zerschlugen, so war doch eine Wende geschafft13. Die Menschen schienen aus ihrer Lethargie erwacht. Neue, produktivere Techniken verbreiteten sich. Überall entstanden die Kirchen der Romanik als Symbole einer erneuerten Welt. Der Vormarsch des Islam wurde gestoppt. Für mehr als ein Jahrhundert waren die Weichen gestellt14.

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Literatur:

Gossler, M. 1980, Astron. Nachr. 301, 191-194.

Hock, C.F., 1837, Gerbert oder Papst Silvester II und sein Jahrhundert, Wien

Illig, H., 1996: Das erfundene Mittelalter; München

Illig, H., 1999: Wer hat an der Uhr gedreht?; München

Jäger, O. 1887, Geschichte des Mittelalters, Leipzig

Korth, H.-E., 2002: Anomalie der 14C-Kalibrierkurve beweist Kalendersprung, ZS 14 (2) 49-67

Kühner, H. 1990, Lexikon der Päpste

Lausser, A. 1866, Gerbert – Étude historique sur le dixième siècle, Aurillac

Nigg, W., 1955, Das Ewige Reich, Zürich

v. Ranke, L., 1887, Weltgeschichte, Band 9, Hamburg

Simony, K., 2001, Kulturgeschichte d. Physik,, Frankfurt


Fußnoten:

1Biographie: Diese Zusammenfassung basiert überwiegend auf den Gerbert-Biographien von Hock [1837] und Lausser [1866], die sich ihrerseits auf Gerberts Briefwechsel mit mehr als 200 erhaltenen Briefen, sowie auf Biographien der Renaissancezeit und Chronistenberichte stützen. Durch die Vielzahl der glaubwürdigen Dokumente (einige der Gerbert zugeschriebene Werke stammen sicher nicht aus seiner Feder) wissen wir heute mehr über das Leben und die Persönlichkeit Gerberts als über irgendeinen seiner Zeitgenossen.

2Cordoba: Es bleibt umstritten, ob Gerbert selbst bis nach Andalusien gereist ist, wo zu jener Zeit unter den Kalifen die Wissenschaften erblühten. Während viele Erzählungen über den angeblich der Zauberei mächtigen Gerbert dies unterstellen, weisen mehrere Biographen darauf hin, dass es keinen Hinweis aus der Feder Gerberts auf einen Aufenthalt im Süden Spaniens gibt. Es wäre allerdings auch verständlich, wenn der von so vielen Seiten angefeindete Gerbert sich hier zurückgehalten hätte.

3Kirchenorgeln: Ungeachtet aller Bedrängnisse ließ Gerbert in Bobbio eine kleine Orgel zur Verwendung im Gottesdienst bauen, die später nach Aurillac transportiert wurde (mehrere seiner Briefe dokumentieren dies). Auch in Reims entstand unter seiner Anleitung eine Orgel, angeblich sogar mit Dampf betrieben (?).

4Credo von St. Basles: Neben seiner liberalen Haltung zu Ehe und Sexualität fällt auf, dass sich dieses Bekenntnis (welches dem Anlass entsprechend äußerst präzise formuliert war) in einiger Ausführlichkeit mit Glaubensinhalten der frühchristlichen Jahrhunderte beschäftigt. Er bezieht sich ausdrücklich auf die vier heiligen Konzilien (Nicea, Konstantinopel, Ephesos, Chalkedon). Er erwähnt den Teufel, der sich willentlich von Gott abgewandt habe, wie es das Konzil von Braga (561) erkannt hatte. Wir haben hier in den Schriften Gerberts ein argumentum ex nihilo: Die Theologie der Phantomzeit findet nirgends Erwähnung: Abendmahlsstreit, Bilderkult, Zölibat, Heiligen-, Marien- und Engelskult müssten Gerbert unbekannt oder nicht der Erwähnung wert gewesen zu sein.

Abb.3
Abb. 3: Päpste des Frühmittelalters

5Die Reichsidee: Der Zentralpunkt des frühen Christentums war die Erwartung des ewigen (1000-jährigen) Reiches Gottes auf Erden. Augustinus hatte Reich und Kirche gleichgesetzt (und damit die vorrangige Bitte des Vaterunsers für erledigt erklärt). Die Wiederbelebung der Reichsidee, die aktive Schaffung einer besseren diesseitigen Welt wurde das Ziel fast aller Reformatoren [Nigg, 1952]. Für Gerbert und Otto lag es nahe, hier anzusetzen, um eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen, die schließlich den Vormarsch des Islam stoppte (der 985 unter Almansor Gerberts Studienorte in Katalonien und Leon überrollt hatte) und aus dem in Demut zu ertragenden Niedergang einen aktiven Neubeginn zu machen.

6Konstantin vii: Spätestens zu dieser Zeit dürfte Gerbert von der Chonologieverlängerung durch den Kaiser Porphyrogenetos (einen Verwandten von Ottos Mutter Theophanu) erfahren haben. Auch dieser war ein hochgebildeter Wissenschaftler, der wie so viele Andere an Hand der Isagoge des Porphyrios in die Erkenntniswelt des Aristoteles eingeführt worden war. Sein Beiname scheint eher hierauf zurückzuführen und weniger auf seine Zeugung/Geburt im purpurgeschmückten Palast (Die Bedeutungen des Wortes gen(n)etos waren übrigens schon auf dem Konzil von Nicea diskutiert worden).

7Antichrist: Ein Motiv Konstantins (905-959) für die Chronologierevision, das bislang nicht betrachtet wurde findet sich in Offenb. 13,18: Wie wohl jeder Leser der biblischen Schriften wird auch Konstantin der Aufforderung gefolgt sein, die Zahl DCLXVI (= Zeichensatz der römischen Ziffern; nur das M fehlt, das das Unendliche/Christus symbolisiert) einem Menschen zuzuordnen. Sein Ergebnis: Der mächtigste Herrscher der Welt, der 666 Jahre nach der Geburt Christi (dem wohl nächstliegenden Bezugsdatum) regiert, das wäre er selbst! Er wäre dann 58 Jahre alt. Sein Sturz wäre vorhergesagt, für die Nachwelt wäre er Die Bestie. Das war absolut inakzeptabel! Vielleicht erinnerte er sich bei der Suche nach einer Lösung an die Siebenschläferlegende, nach der zu Zeiten Kaiser Dezius fromme Jünglinge in eine 300 Jahre entfernte Zukunft gerettet wurden.

8Italienzug 995: Gerbert erwähnt die geplante Reise in einem Brief. Ein Aufbruch im Frühjahr 996, wie in den Geschichtsbüchern zu lesen, ist wenig wahrscheinlich. Wenn, wie berichtet, das Osterfest (am 9. April, nach den bei [Gossler] angegebenen Formeln) in Pavia gefeiert wurde, so hätte der Weg des kaiserlichen Trosses unter Lebensgefahr über den schneebedeckten Brennerpass führen müssen. Auf dem Weg nach Ravenna und Rom hätte der Umweg über Pavia außerdem etliche zusätzliche Tagesmärsche bedeutet.

9Der Plan: Sollte Brun 996/699 das Papstamt mit dem Ziel angetreten haben, durch einen Kalendersprung von 300 Jahren selbst als der Jahrtausendpapst in die Geschichte einzugehen? Die Absetzung hätte dann seinen Lebenstraum zerstört. Als er wieder ins Amt kam war es zu spät. Ihn erwartete nur noch ein Leben als ungeliebter Verwalter der Kirche im feindseligen Rom. Dies könnte seine sonst unverständliche bestialische Rachsucht erklären.

10Politik: Vermutlich hatte Gerbert inzwischen erkannt, dass ein Schisma unvermeidlich wäre, falls er sich hier festlegen würde (noch dazu auf 297 anstelle von 300 übersprungenen Jahren). Der Aufstand gegen Brun hatte ihn gewarnt. Da seine eigene Person innerhalb der Kirche immer wieder umstritten war, hatte er keine Chance ein Machtwort zu sprechen. Andererseits konnte er sich überlegen, dass auf lange Sicht bei zwei konkurrierenden Chronologien die Kürzere keine Chance hätte. Der Briefwechsel zwischen Gerbert und Otto aus dieser Zeit zeigt einen verärgerten Kaiser.

11Papstliste: Einem Gerbert wäre die logische Richtigstellung der Papstliste zuzutrauen gewesen. Damit sich keine Referenzen über die Phantomzeit hinweg ergaben, wurde der letzte realzeitliche Papst Sabinian aus Volterra als Lando der Sabinier gespiegelt (Ital.: Landa = Terra). Hierzu (vergl. Abb. 3) war es ausreichend, vor eine einzige (!) Referenz auf Sabinianus das eine (!) Wort Lando zu setzen. Dadurch war die Folge für jeden Interessierten schlüssig: Bei der Verifizierung der langen Chronologie wurde nun ein Papst Lando gefunden (von dem natürlich keinerlei Dokumente überliefert sind). Im Bewusstsein der kurzen Chronologie konnte man die Anfügung auch als Laude deuten und ignorieren.

12Mord? Auch wenn sich der Vergleich mit der Geschichte von Judith und Holofernes aufdrängt, so verneinen die Quellen einen gewaltsamen Tod von Otto III.

13

Abb.4
Abb. 3: Faximile vom Anfang des 7. Buches der Merseburger Chronik - Die Kaiserkrönung Heinrich II [fol. 142R], geschrieben um 1017
Anno Domini Datierung: Nach der Jahrtausendwende setzte sich diese Datierung rasch durch, auch bei Vertretern der Kirche. Wie Abb. 4 zeigt, verwendete sie auch der Bischof und Geschichtsschreiber Thietmar von Merseburg – offensichtlich unter inneren Konflikten: Ursprünglicher Text: decursis a dominica incarnatione annus tredecim & in subsequentus anni... Verbessert: decursis a dominica incarnatione annus mille tredecim & in subsequentus anni... Schließlich: decursis a dominica incarnatione post millenarii plentaitudine numeri annus tredecim & in subsequentus anni... Erklärung: 1. Der erfahrene Geschichtsschreiber Thietmar vergass das Wort mille in der ersten Zeile seines neuen Werkes (war ihm bei der neuen Jahreszählung unwohl?). 2. Er fügt das vergessene Wort ein. Nun steht dort aber eine Unwahrheit, die Bezug auf seine heiligsten Werte nimmt. 3. Nach reiflicher Überlegung gelingt ihm eine weitere Korrektur, die das schon Geschriebene ergänzt und dabei den Satz so umbaut, dass er akzeptabel erscheint. Quelle: Jäger O, 1887 Geschichte d. MA, Leipzig, 133

14Wahrhaftigkeit: Für Gerbert nicht vorhersehbar, war das zwangsläufige, tragische Dilemma in das die Kirche mehr als ein Jahrhundert später durch die Chronologiereform gestürzt wurde: Gerade weil durch Gerbert die aktive Jahreszählung, die ein Abbild der Heilsgeschichte lieferte, zur Selbstverständlichkeit werden konnte, wurde nun die Lücke in dieser offenbar. War für Gerbert die logische Stimmigkeit hinreichend gewesen, so war nun die Heilsgeschichte das Subjekt, dem sich die geschichtlichen Ereignisse unterzuordnen hatten. Die 300-jährige Lücke in der Chronologie konnte nicht akzeptiert werden ohne die Glaubwürdigkeit der Kirche zu beschädigen, die sich in als Bewahrer einer überkommenen Wahrheit sah, die von jedem gutwilligen Menschen nachvollzogen werden konnte. Nun erst sah sich die Kirche gezwungen die Lücke in der Heilsgeschichte zu schließen und damit zugleich ihre Wahrhaftigkeit aufzugeben. Aus einer authoritären wurde eine totalitäre Kirche. Ketzerei wurde neu definiert, als Abweichung von den Glaubenssätzen der Kirche. Eine Religionspolizei (Inquisition) sorgte für Gehorsam.

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