Das Schreiben des Leo von Vercelli

von Hans-Erdmann Korth
erschienen in Zeitensprünge 2/06, 410-416

"Unter der Macht des Kaisers reinigt der Papst die Jahrhunderte".

Da stand der Beleg für die Phantomzeitthese! Die Protagonisten selbst hatten demnach ihr Vorhaben einst schriftlich festgehalten! Es war kaum zu glauben! Der merkwürdige Satz findet sich in dem 1951 erschienenen Büchlein "Der Kaiser Otto III" von Henry Benrath (hinter dem Pseudonym versteckt sich der Historiker A. H. Rausch), das ich beim Ordnen des Nachlasses meiner Schwiegermutter erstmal zur Seite gelegt hatte.

"Unter der Macht des Kaisers reinigt der Papst die Jahrhunderte". So übersetzt Benrath die Zeile
Sub caesaris potentia purgat papa secula aus einem als 'Versus de Gregorio et Ottone Augusto' bezeichneten gereimten Text, der Leo von Vercelli zugeschrieben wird und der dem historischen Kontext nach um die Mitte des Jahres 998 entstanden sein dürfte. Benrath zufolge enthält dieses Machwerk nichts, was die Zeitgenossen nicht schon gewusst hätten. Er vermag in ihm

"nur den seelenlosen höfischen Kommentar einer Politik zu sehen, welche schon durch Taten gezeigt hatte, wohin sie steuerte. 'Dichtung' kann ich diese Ansammlung von Reimen nicht nennen,..."

Nur wenige Zeilen heben sich aus einem Schwall von Worten hervor, wie Benrath weiter anmerkt.

Auch andere Historiker tun sich schwer damit diesen Text einzuordnen: Während H. Dormeier ihn als 'Triumphlied' und 'Huldigungsgedicht' ansieht, geht es nach K. Görichs Interpretation in diesen Versen vor allem darum, die Befreiung des Papstes aus stadtrömischen Bindungen und die Schutzfunktion des Kaisers für den Papst zu feiern. Dieser Ansicht schloss sich (auf meine Nachfrage) auch der Tübinger Historiker L. Körntgen an. Jan Beaufort wies mich darauf hin, dass die fragliche Zeile traditionell auf die Gewaltenteilung zwischen Kaiser und Papst bezogen wird: Der Kaiser ist für die weltliche Macht, der Papst für die geistige und sittliche Reinheit zuständig.

All diese Befunde deuten auf eine gewisse Ratlosigkeit der Experten hin. Es lohnt sich daher, sich die kritische Ausgabe dieses Textes in den Monumenta Germaniae Historica einmal anzuschauen. K. Strecker beschreibt dort den stark abgegriffenen, teils unleserlichen Text, der sich auf der Rückseite eines Heftes aus vier Pergamentblättern fand (Sie wurden später zusammen mit anderen Fragmenten eingebunden). Dieses Heft enthält ansonsten ältere Niederschriften, wobei die Schlussseite zunächst frei geblieben war.Versus de Gregorio...  vgl. MGH


Unser Text besteht demnach aus zwölf dreizeiligen, gereimten Strophen. Über diesen befindet sich ein weiterer Dreizeiler in wesentlich größerer Schrift, der als Refrain verstanden wurde. Neben dem Text findet sich eine Vertonung in Neumen, deren Melodie jedoch nicht rekonstruiert werden konnte. Schließlich wird darauf hingewiesen, dass das Wort 'purgat' am ersten, sowie an den beiden letzten Buchstaben Spuren von Rasuren zeigt.

Wurde etwa das Schlüsselwort des Textes verändert? Welchen Sinn kann denn eine Rasur sonst haben? In diesem Falle wäre es nun aber nicht schwer, das ursprüngliche Wort an dieser Stelle zu bestimmen. Der verbleibende Wortrest '_urg__' lässt da nur eine einzige weitere Möglichkeit in der durch den Kontext vorgegebenen Präsensform zu: 'surget'. Die Zeile lautet dann:
Sub caesaris potentia surget papa secula, was etwa mit "Unter der Macht des Kaisers lässt der Papst die Jahrhunderte erstehen" zu übersetzen wäre. Da das Verb 'surgere' auch schon am Beginn des Pergaments erscheint (wenn auch in der Aktivform), ist seine Bedeutung eigentlich klar. Auch die Abänderung des Textes wäre schlüssig, da sie die ursprüngliche Aussage abschwächt, aber nicht verfälscht.

Worum ging es bei diesem Text? Wenden wir uns zunächst dem Verfasser zu: Der spätere Leo von Vercelli gehörte zu jener Zeit als 'Logothet' zum innersten Kreis um Kaiser Otto III, bevor er im Jahre 999 Bischofsamt und Bistum Vercelli übernehmen durfte. Er wurde als hoch intelligent und rational beschrieben, ein hervorragender Redner und Jurist. Die von ihm für den Kaiser verfassten Urkunden sind bekannt dafür, dass sie oft gezielt doppeldeutig angelegt sind (Benrath nennt Beispiele). Dies gilt auch für die von Leo selbst verfasste Urkunde zu seiner Einsetzung als Bischof von Vercelli. Leo dürfte einer der Initiatoren der 'renovatio imperii romanum' gewesen sein. Zumindest scheint er einer ihrer eifrigsten Verfechter gewesen zu sein. Nach Ottos allzu frühem Tod mit noch nicht 22 Jahren setzte er sich für die Interessen Kaiser Heinrichs II in Italien ein - und für seine eigenen. Zur Stützung der Ansprüche des Klosters Vercelli präsentierte er dem Kaiser im Jahre 1007 eine gefälschte Urkunde aus der Karolingerzeit.

"Unter den vorgelegten Vorurkunden befand sich auch ein echtes Diplom Karls III für Bischof Liutward von Vercelli (882), das Leo wohl für diese umfangreiche Bestätigung verfälscht hatte." [Dormeier]

Offenbar hatte er als einer der Ersten die Möglichkeiten erkannt, die das erfundene Frühmittelalter für solche Vorhaben bot.

Sollte also einer der führenden Staatsdiener einen praktisch inhaltsleeren Hymnus zur allgemeinen Erbauung verfasst haben? Das ist kaum vorstellbar. Und schon ein flüchtiger Blick auf das Dokument weist in eine andere Richtung. Die erste Zeile des Textkörpers stellt eine formal korrekte Briefanrede an den Papst dar:
Salve, papa noster, salve, Gregori dignissime! Demnach handelt es sich um ein Schreiben an Gregor V (Bruno von Kärnten), den Cousin des Kaisers, der wenige Monate zuvor, im Frühjahr 998, nach der blutigen Rückeroberung Roms durch Otto III auf den apostolischen Stuhl zurückgekehrt war. Leo von Vercelli war es gewiss zuzutrauen, ein solches Schreiben so zu verfassen, dass dem flüchtigen Leser der wahre Inhalt der Botschaft an den Adressaten entging. Im Folgenden wollen wir diese Hypothese überprüfen:

Die über dem Textkörper befindliche einleitende Strophe wäre in diesem Fall nicht als Refrain zu sehen, sondern sie würde der 'Invocatio' offizieller Urkunden entsprechen. Schauen wir sie etwas genauer an:
Christe, preces intellege, Romam tuam respice. Christus wird hier nicht etwa um die Erfüllung der folgenden Bitten ersucht, sondern er soll sie erst mal verstehen. Den Verstand Christi in Frage zu stellen wäre schiere Ketzerei! Die Zeile stellt daher wohl in Wirklichkeit einen Appell an den Leser des Schreibens dar, die folgenden Botschaften richtig einzuordnen.
Romanos pie renova, vires Rome excita. Nein, hier geht es nicht um die Frömmigkeit (pietas) der Römer, sondern um die wieder zu erlangende Friedfertigkeit (pie = Milde, Sanftmut) der infolge der Besetzung immer noch hasserfüllten und verstörten Einwohner Roms.
Surgat Roma imperio sub Ottone tertio. Damit ist das eigentliche Staatsziel angesprochen, das Wiedererstehen des Römischen Reiches unter dem jugendlichen Kaiser Otto III, dem sich alles unterzuordnen hat.

Nach diesem Vorwort folgt die schon erwähnte höfliche Anrede. Sofort darauf ändert sich der Ton:
Cum Ottone te augusto tuus Petrus excipit. Bei Dormeier finden wir die Übersetzung: 'Gemeinsam mit Otto dem Augustus nimmt dein Petrus dich bei sich auf.' Nein: te = Dir! Selbst wenn wir dem Text hymnische Schwärmerei unterstellen, bleibt die Frage nach dem Sinn. Warum sollte ausgerechnet der Papst seinen Vetter als 'Augustus' ansehen? Und was hat Otto auf dem Stuhle Petri zu suchen?

Ich halte eine andere Lesart für möglich: 'cum' mit Indikativ, das hatte man mir vor vielen Jahren eingetrichtert, steht für 'als; wenn; jedesmal wenn; dadurch dass'. Bei augusto könnte es sich um eine umgangssprachliche Vergangenheitsform von 'augere' (erheben) halten. Im Hochlatein finden wir die Perfektform 'auctus'. Allerdings wird Augustus (der Erhabene) natürlich auch von 'augere' hergeleitet. Für den Einfluss der Umgangssprache spricht auch der Augmentativ 'Ottone'. Diese Steigerungsform ist in den modernen romanischen Sprachen gebräuchlich, im klassischen Latein jedoch nicht. Damit spricht einiges für die Lesart: 'Dadurch, dass der große Otto dich erhob, hat Petrus dich herausgehoben'. Dieser Gedanke setzt sich logisch fort mit
Consurgis ad sublimia, ipse te humilia. Halten wir also fest: Sofort nach der förmlichen Anrede wird der Papst darauf hingewiesen, wem er sein Amt verdankt und seine Demut wird eingefordert.

Über insgesamt acht Strophen setzt sich dieses Muster fort. In regelmäßigem Wechsel werden die Aufgaben des Papstes den Machtmitteln des Kaisers gegenübergestellt. Dabei wird keinerlei Zweifel daran gelassen, dass Otto in jeder Beziehung das Sagen hat. Inhaltlich wird dabei nur Altbekanntes vorgebracht, wie Benrath richtig feststellt. Aus der Perspektive des Papstes als Adressaten liest sich der Text allerdings ganz anders: Für ihn stellt er eine massive Einschüchterung und die unverhohlene Drohung mit Gewalt dar.

Zu Beginn der neunten Strophe ändert sich der Tonfall: Nun sind ganze fünf Zeilen lang Jubel und Freude angesagt. Zugleich wird auch auf den Rat Gerberts verwiesen, des führenden Gelehrten an Ottos Hof. Mit der Freude kündigt sich die eigentliche Botschaft an. Hierbei handelt es sich um ein gängiges Stilmittel. Man denke nur an Formeln wie 'Annuntio vobis gaudium magnum, habemus Papam'. Nun also kommt der Schlüsselsatz:
Sub cesaris potentia purgat/surget papa secula.

Nach der Übersetzung von Benrath sei auch noch die von Dormeier angegeben: 'Unterm mächtgen Schutz des Kaisers läutert nun der Papst die Welt'. Das klingt gut, aber was soll es bedeuten? Welche konkrete Maßnahme könnte es beinhalten? Warum ist für die Nachricht, dass die Welt besser werden soll, ein solcher rhetorischer Aufwand erforderlich? Ist es zulässig, den Zeitbezug von seculae (noch dazu in der Mehrzahl) einfach mit 'Welt' zu übersetzen? Gemeinhin wurde mit seculum (oder saeculum) ein längerer Zeitraum bezeichnet, ein Jahrhundert aber auch ein Menschenalter. Einiges spricht also für Benraths Übertragung "Unter der Macht des Kaisers reinigt der Papst die Jahrhunderte", bzw er lässt sie erstehen. Es geht damit um ein bereits abgesprochenes Projekt, dessen Durchführung angemahnt wird, was das Schreiben und seinen dringlichen Ton verständlich macht.

Sofern Illigs Hypothese richtig ist, dass Konstantin VII Porphyrogenetos bereits ein halbes Jahrhundert zuvor die Geschichtsschreibung seines Reiches um drei Jahrhunderte veraltet hat, dann war es für Otto III. eine Frage der Staatsräson, diesen Zeitsprung nachzuvollziehen. Sein Projekt der Reichserneuerung wäre zum Scheitern verurteilt gewesen, hätte er der Geschichstsschreibung Konstantinopels - die zu widerlegen er keinerlei Chance hatte - nichts entgegensetzen können. Bei jedem Konflikt, so wäre zu erwarten gewesen, hätten die Byzantiner darauf hin gewiesen, dass Ottos Neues Reich keinerlei durch Tradition gesicherte Legitimität besäße. Hinzu kam Ottos eigene Abstammung. Konnte er hinnehmen, dass seine mütterlichen Vorfahren einer anderen Geschichtsprämisse entstammten als seine väterlichen? Dies alles wäre für ihn mit Sicherheit niemals zu akzeptieren gewesen. Er musste also um jeden, wirklich jeden Preis mit Konstantinopel gleichziehen und sich dafür auf die Kirche stützen. Die anstehende Jahrhundertwende bot ihm die beste Gelegenheit, eine Kalenderreform ohne großes Aufsehen durchzuführen. Aber es war keine Zeit zu verlieren. Das Projekt stand somit unter gnadenlosem Zeitdruck.

Zurück zu unserem Text: Nachdem die Botschaft heraus ist, wird in der elften Strophe an die Kooperation von Kaiser und Papst durch Schwert und Wort (in dieser Reihenfolge!) appelliert. In der letzten Strophe schließlich wird der Papst zum Handeln aufgefordert: Gott habe ihn ins allerhöchste Amt als Nachfolger Petri erhoben. Und er möge doch bitte auch an seinen eigenen Ruhm und den der Seinen denken...


Wie diese kurze Betrachtung zeigt, erscheint der 'Versus...' in sich schlüssig und unmittelbar verständlich, wenn er als hoch professionell konzipiertes Schreiben an den Papst verstanden wird. Für den Empfänger ist die kaum verhüllte Drohung offensichtlich. Dem oberflächlichen Leser bleibt sie verborgen. Dieser verwundert sich allenfalls über die eigenartige Zwecklosigkeit des Textes.

Wir wissen nicht, ob Papst Gregor V den Brief je erhalten hat. Die uns überlieferte Fassung auf der Rückseite eines alten Heftes stellt wohl nur einen Entwurf dar. Offenbar hat Gregor der Aufforderung des Kaiserhofes nicht entsprochen. Möglicherweise fühlte er sich dazu auch gar nicht in der Lage, nachdem er erst kurz zuvor aus dem Exil zurückgekehrt war. Hinzu kamen wohl moralische Skrupel: Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hatte sich Gregor V stets um einen vorbildlichen Lebenswandel bemüht.

Wenige Monate später, am 18. Februar 999, starb Gregor V. völlig überraschend im Alter von 27 Jahren in Rom. Den Kaiser, sowie seine Herzöge und die Bischöfe Leo und Gerbert erreichte die Nachricht im Kloster von Monte Cassino auf einer Synode. So konnten sich Spekulationen über einen möglicherweise gewaltsamen Tod des Papstes nur gegen die Römer richten. Hierfür ließ sich aber außer schierem Hass kein rationales Motiv finden, da an der Benennung des Nachfolgers durch Kaiser Otto kein Zweifel bestehen konnte. Tatsächlich wurde nun Gerbert von Aurillac zum Papst ernannt. Diesem gelang es offenbar ohne große Mühe, die Kirche in das Millennium zu führen und das folgende Jahr als 'Säkularjahr' begehen zu lassen.


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Literatur:

Benrath, Henry: Der Kaiser Otto III, (geschrieben 1946), DTV 1771 (ISBN 3-423-01771-6) 1982

Strecker, Karl: MGH, Poetae Latini 5, 1939, S. 477-480 (www.dmgh.de)

Dormeier, Heinrich: Kaiser und Bischofsherrschaft in Italien: Leo von Vercelli, Ausstellungskathalog "Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen", hg. von Michael Brandt und Arne Eggebrecht, Hildesheim/Mainz 1993, Band 1, S. 106f.

Görich, Knut: Otto III. Romanus Saxonicus et Italicus, Sigmaringen 1993, 2. Aufl. 1995, S. 198f. u. 234,

Illig, Heribert: Wer hat an der Uhr gedreht?, München 20003, S. 158 ff.

Korth, Hans-E.: Gerbert v. Aurillac, † 12. Mai 1003, ZS 15/1 (2003) 209-221>


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