Die These – ihre Stärken und Schwächen:
Zu Beginn der 90er Jahre zeigte sich, dass die
bisherigen Vorstellungen über die Chronologie des Frühmittelalters eine
ganze Reihe von Widersprüchen beinhalteten. Insbesondere zeugten für
Personen und Ereignisse dieser Zeit nur wenige halbwegs sicher
datierbare physische Belege.
Als Erklärung hierfür formulierte Heribert Illig (auf ihren Anteil an
der These verweisen auch H.-U. Niemitz, sowie U. Topper) mit der sog.
Phantomzeitthese
die Vermutung, dass jener Zeitspanne der Geschichte keine reale
Zeit zugrunde läge, dass deren Personen und Ereignisse weitgehend frei
erfunden seien. Illig grenzte diese Spanne auf die Zeit zwischen den
Jahren 614 und 911 ein. Davor und danach wäre die Chronologie i.W.
korrekt. Vor etwa 1000 Jahren
seien die Jahresangaben der Überlieferungen um 297 Jahre erhöht worden,
bei gleichzeitigem Übergang zur
Jahreszählung nach
Christi Geburt (ab incarnatione domini). Eine umfassende 'Aktion'
habe seinerzeit dafür gesorgt, dass sämtliche bestehenden
Überlieferungen dementsprechen abgeändert wurden.
Leider sorgt schon der Begriff
Phantomzeitthese für Verwirrung:
Nicht die
Zeit als solche ist Gegenstand des Zweifels, sondern
von der
Geschichtsschreibung berichtete Zeitläufte, die auf einst willkürlich
festgeschriebene Epochenjahre (griech.
epoché „Haltepunkt“)
bezogen werden. Trotzdem hat sich der
Ausdruck eingebürgert. Heribert Illig, der sich ganz der Verbreitung
seiner in der Tat revolutionären Erkenntnis widmete, musste dafür
persönliche
Angriffe in großer Zahl erdulden. Sachliche Einwände gegen seine These
gab es nur selten, da sich die meisten Wissenschaftler gar nicht erst
auf die
Thematik einlassen mochten.
Konkrete Kritik an der Phantomzeitthese richtet sich gegen die mit ihr
verbundene unwahrscheinliche Annahme, dass eine umfassende 'Aktion' vor
einem Jahrtausend tatsächlich praktisch alle Datierungen verändert
haben könnte, ohne dass der Sinn einer solchen, gewaltige Ressourcen
verschlingenden Tat wirklich überzeugend
darzulegen wäre.
Unerklärt bleiben auch einige gesicherte Datierungen (babylonische
Sonnenfinsternisse, antike
Ostertafeln) welche die gebräuchliche Jahreszählung klar bestätigen.
Synthesis:
Unsere Analyse des Chronologieproblems auf diesen Seiten wählt statt
der Chronologie der Überlieferungen die Zeit selbst als
Maßstab.
Danach finden sich im Oströmischen Reich durchgängig identische
Personen und Ereignisse in den drei Jahrhunderten, die mit den
Herrschern Konstantin bzw. Herakleios beginnen bzw. auf diese folgen.
Im Westen ist die Sache komplizierter: Ereignisse des 9. Jh. u.Z. und
ihre Protagonisten erscheinen, wie
astronomische Überlieferungen bestätigen unter gleich 7 (!) unterschiedlichen
Jahreszählungen (vorgeschlagene Benennung: AD-alt, u.Z., sowie Karl d. Gr., Ludwig d. Fr. und Pippin
I., II. und III.) und füllen so mehr als vier Jahrhunderte der
Geschichtsschreibung (die 'Zeit' der Merowinger und Karolinger). Damit
erklären sich nun alle Beobachtungen recht zwanglos: Die
in Urkunden überlieferten Jahreszahlen beziehen sich 'lediglich' auf
unterschiedliche Epochenjahre. Im Gegensatz auch zu den Folgerungen
'konservativer' Analysen [vgl. H. Fuhrmann: 'Von der Wahrheit der
Fälscher'; C. Faußner: 'Wibald v. Stablo'] wurden sie i.A.
nicht
verfälscht. Was nach mehreren Jahreszählungen überliefert wurde,
besitzt mit hoher Wahrscheinlichkeit einen wahren Kern und kann
jedenfalls nicht nach der Jahrtausenwende erdacht worden sein!
Durch die
Neufestsetzung des Bezugsjahres (u.Z.) mit dem symbolträchtigen
Millennium entstand neben der
ursprünglichen AD-Jahreszählung (die schon Beda benutzte)
eine weitere, um 299 Jahre verschobene Zählweise. Wie es hierzu kam,
sei
zunächst dahin gestellt - jedenfalls war die Neufestsetzung ohne allzu
großen Aufwand
möglich. Da all dies offenbar späteren Kompilatoren nicht bekannt
war, wurden viele Ereignisse nach zwei Epochen
datiert und erscheinen dementsprechen zweifach (z.T. auch öfter) in der
Überlieferung. Es
gibt also keine Spanne mit frei erfundener Geschichte, sondern
allenfalls die verschleiernde Darstellung realer Ereignisse. Während
Illigs Phantomzeitthese Doppelüberlieferungen nur
in der Nähe des Zählsprunges zu erklären vermag, treten diese
tatsächlich
bis in die griechische Antike zurück recht häufig auf (vgl. Tabellen).
Dies hat leider die unschöne Auswirkung, dass zur künftigen
Richtigstellung der Chronologie eine einfache Verschiebung nicht
ausreicht, sondern aufwändige Sortierarbeit und Neubewertung der
Zusammenhänge erforderlich wird.
Wertung:
Der Fortschritt der Wissenschaft verläuft nach Hegel über
These und
Antithese zur
Synthese. Die Aufgabe der Antithese ist
dabei, sicher geglaubtes Wissen durch das Aufzeigen von Widersprüchen
in Frage zu stellen. Nur selten gelingt es, durch formulieren einer
Antithese, sogleich die wahren Tatbestände zu erfassen. Aber erst mit
der
Antithese entsteht die Möglichkeit, jene zu erkennen.
Es ist Heribert Illigs historischer Verdienst, die Defizite der
frühmittelalterlichen Chronologie benannt und einem größeren Kreis von
interessierten Lesern bekannt gemacht zu haben. Als
Herausgeber der
Zeitensprünge (inzwischen im 20. Jahrgang)
hat
er darüber hinaus eine überaus fruchtbare interdisziplinäre
Zusammenarbeit ermöglicht und gestaltet. Der Verfasser dieser Zeilen
ist
Illig von Herzen dafür dankbar, dass er durch dessen Bücher auf das
Chronologieproblem aufmerksam wurde und später eigene Beiträge in den
Zeitensprüngen veröffentlichen durfte.
Mechanismen der Wissenschaft:
Warum fand das Chronologieproblem, selbst nachdem es von Illig
thematisiert worden war, kaum Beachtung? Wissenschaftler engagieren
sich in Forschung und Lehre, um zum gesicherten Wissen
der Menschheit beizutragen. Sie wissen, dass ad-hoc Hypothesen
(auf denen
alle unabhängigen
Prüfungen der
vor-mittelalterlichen Jahreszahlen beruhen!) unzulässig sind [K.
Popper]
bzw. als
positive Heuristik [I. Lakatos] überzeugend
begründet sein sollten. Warum also wurden
die Widersprüche der Chronologie und
deren Erklärungsversuche kritiklos hingenommen, obwohl diese dem
besseren Verständnis der Welt entgegen stehen? Es scheint sich hier um
eine Spielart des von Dan Ariely in '
Predictably
Irrational' dargestellten Phänomens zu handeln: Es schmerzt,
die eigene Lehre zu berichtigen. Dies gilt auch für die Fach-Kollegen.
Kritische Anmerkungen sollten sich zudem auf das eigene Spezialgebiet
beschränken.
Unruhestifter haben mit Sanktionen zu rechnen. Von
außen kommende Kritik erscheint schon deshalb kaum akzeptabel, weil sie
diesen Konventionen nicht genügt. Zudem macht wohl jeder
Forscher die Erfahrung, dass 'Erkenntnisse', die von 'Laien' an ihn
herangetragen werden, fast nie einer wissenschaftlichen Überprüfung
stand halten, welche zudem einen
beträchtlichen Zeitaufwand erfordert. Unter diesen Randbedingungen wird
die Übernahme irriger Vorstellungen unwahrscheinlich.
Erkenntnisse, die einem Paradigma entgegen stehen, werden so jedoch
blockiert. Erst die andauernde 'Erosion' des Paradigmas erlaubt
schließlich eine
wissenschaftliche Neuorientierung.
Eine Anmerkung noch zur Radikalkritik an der Chronologie:
Ex falso quod libet – Aus Falschem folgt, was beliebt. In der
Praxis bedeutet dies, dass eine irrige Prämisse notwendigerweise dazu
führt, die am plausibelsten erscheinende Erklärung sorgfältiger
Beobachtungen für richtig zu halten. Was jeweils plausibel ist,
hängt natürlich vom Kenntnisstand des Einzelnen und von dessen
Gewichtung der verfügbaren Informationen ab. Auf diese Weise führten
die Widersprüche der Chronologie einige Forscher zu der Überzeugung,
dass die Geschichtsschreibung im Ganzen eine Fälschung sei, die wohl
zu Zeiten der Renaissance geschaffen wurde. Gegen diese radikale Sicht
spricht zunächst einmal, dass eine überzeugende Begründung dafür fehlt,
warum
wohl seinerzeit eine derart aufwändige 'Aktion' ins Werk gesetzt worden
sein
sollte. Berücksichtigt man die um drei Jahrhunderte verschobenen
Sonnenfinsternisse und die anderen hier vorgestellten Befunde, so
erscheint diese Vorstellung vollends unglaubhaft: Es wären dann gleich
zwei (!) Verschwörungen anzunehmen, deren erste unsere
Geschichtsschreibung
anhand rückgerechneter Daten weitgehend frei erfunden hätte. Im Rahmen
einer weiteren Verschwörung wäre sodann diese erfundene Geschichte um
drei Jahrhunderte verschoben worden. Diese doppelte Vermutung erscheint
so wenig wahrscheinlich, dass sie wohl mit Sicherheit ausgeschlossen
werden
kann...