Das erzwungene Millennium – an Karl dem Großen führt kein Weg vorbei

Nehmen wir einmal an, die von Leo von Vercelli angemahnte 'Bereinigung der Jahrhunderte' wäre nach dem Tod seines Vorgängers vom neuen Papst Silvester II. (Gerbert v. Aurillac) sogleich umgesetzt worden – wenn auch mit einem Jahr Verspätung. Nun galt es, die neue Jahreszählung schnell und ohne viel Aufhebens durchzusetzen (zumindest dem Papst dürfte klar gewesen sein, wie leicht derartige Reformen zu unkontrollierbaren Glaubenskonflikten eskalieren konnten).Otto III.

Im Frühling des Jahres 1000 reiste der 19-jährige Kaiser Otto III. nach Aachen (zuvor hatte er im Kloster zu Ravenna eine mehrwöchige Bußklausur 'für seine schweren Verbrechen' absolviert und war dann nach Gnesen gepilgert). In Aachen suchte und fand er die Gebeine seines 186 Jahre zuvor verstorbenen Ahnherrn Càrolus. Kaiser Otto nahm die Grabbeigaben sowie einen Zahn an sich, ließ die Nasenspitze des Toten durch eine goldene ersetzen und das Grab wiederverschließen. Sein Vorfahr, so ließ Otto schließlich verkünden, sei ein überragender Herrscher gewesen. Eine eindringliche Beschreibung der Ereignisse in Aachen liefert die Chronik des piemontesischen Klosters Novalese, angeblich gestützt auf einen Augenzeugenbericht:
"Nach vielen Jahren kam Kaiser Otto III. in die Gegend, wo Karls Leichnam geziemend begraben ruhte. An den Ort des Begräbnisses stieg er zusammen mit zwei Bischöfen und dem Grafen Otto von Lomello hinab. Der Kaiser selbst war der vierte. Jener Graf erzählte die Sache folgendermaßen: Wir traten bei Karl ein. Er lag nämlich nicht, wie üblicherweise die Leiber anderer Verstorbener, sondern er saß wie lebendig auf einem Thron, war mit einer goldenen Krone gekrönt, hielt das Szepter in den Händen mit angezogenen Handschuhen, durch die bereits die Fingernägel durchbohrend herausgewachsen waren. Über ihm war ein aus Kalk und Marmor ziemlich gut gebautes Gewölbe. Wir beschädigten es beim Hinkommen, indem wir ein Loch hineinbrachen. Als wir dann zu ihm eintraten, nahmen wir einen sehr starken Geruch wahr. Mit gebeugten Knien richteten wir sofort ein Gebet an ihn. Kaiser Otto bekleidete ihn dann mit weißen Gewändern, beschnitt ihm die Nägel und stellte alles Abgefallene um ihn wieder her. Nichts von seinen Gliedern war bis dahin durch Verwesung vernichtet, nur von seiner Nasenspitze fehlte ein wenig. Sie ließ der Kaiser sogleich aus Gold ergänzen und ging dann weg, nachdem er aus (Karls) Mund einen Zahn gezogen und das Gewölbe wieder hatte herstellen lassen" [Chronicon Novaliciense, ed. Gian Carlo Alessio. Torino 1982, III 32, S.182; Übersetzung: Görich S.383 in 'Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen' (Vorträge und Forschungen 46). Sigmaringen 1998]
Ein Besuch im wieder gefundenen Grabe bei der aufrecht sitzenden Mumie Karls des Großen... – das erscheint zumindest stark übertrieben. Aber wer hätte sich das Detail mit der fehlenden Nasenspitze ausdenken können? Sein 'Karl' wäre dadurch als Herrscher disqualifiziert gewesen (Hier sei an das Schicksal des Justinian II. 'Rhinometos'  erinnert)! Zwei mögliche Erklärungen bieten sich an: Entweder fehlte dem Toten tatsächlich die Nase - dann hatte Otto III. das richtige Grab seines Ahnherrn Càrolus Nazon (* um 480 AD. †516 AD. – 'Karlchen Nase') öffnen lassen. Oder es war Otto bekannt, dass sein Vorfahr (der, obwohl Königssohn, von Chlodwig d. Gr. 510 AD als Einziger der Nachfolgekandidaten nicht umgebracht wurde!) die Nase eingebüßt hatte – was ebenfalls für dessen Historizität spricht.

Fast genau drei Jahrhunderte 'nach' Carolus Nazon lebte Karl der Jüngere (*773 †811), der früh verstorbene Thronfolger Karls des Großen. Dessen Biograf Einhard erwähnt ihn allerdings nicht. So ist nur wenig über ihn bekannt geworden: Ab 788 König in Neustrien. Zum alleinigen Inhaber des karolingischen Familienbesitzes, sowie des Großteils der Königsgüter, Pfalzen und Reichsklöster ausersehen, begleitete er 805 den Papst nach Reims (dem Sitz Chlodwigs!).

Welchem Zweck diente nun das makabre Schauspiel in der Aachener Pfalzkapelle? Es lieferte den 'Beweis' für die Gültigkeit der neuen Jahreszählung! Der mächtige Karl d. Gr. konnte logischerweise erst nach den Merowingern geherrscht haben. Ereignisse, die auf alte Weise nach der Inkarnation Christi datiert waren, rückten damit wie von selbst in eine ferne Vergangenheit. Um keinen Raum für irgendwelche Zweifel an der Gültigkeit der Chronologie zu lassen, musste die Existenz Karls d. Gr. gesichert erscheinen. Dies ließ sich ohne allzu großen Aufwand dadurch erreichen, dass ihm auch die Überlieferungen zu gleich mehreren realen Herrschern zugeschrieben wurden:
1. Austrapius, letzter Charl (König) der Menapier - der Urahn gab Rang und Namen.
2. Carolus IV. 'Nazon' - lieferte Gebeine (Nase) und Todesjahr (A.D.).
3. Carolus 'Der Jüngere' - lieferte das Todesjahr (u.Z.).
4. Chlodwig d. Gr. - vollbrachte die Eroberung des Frankenreichs.
5. Theoderich d. Gr. - hatte Italien erobert, war in Rom eingezogen [um 800 u.Z.] und hatte die Insignien des weströmischen Reiches empfangen.
6. Chlothar II. - hatte (lt. Fredegar Cont.), wie Karl der Große, Massenmord an den Sachsen begangen und ihre Anführer christianisiert.
7. Karl III. Simplex - auf ihn gehen die KRLS-Signatur und die Münzen Karls zurück.
8. Otto I. - erhielt die Salbung zum Kaiser durch den Papst in Rom.
Damit haben wir einen realen König Carolus (Nazon / Der Jüngere), der in Aachen bestattet war und dessen Gebeine Otto III. aufsuchen konnte.

Außerdem haben wir den historischen Karl III. als Alter Ego von Chlothar II. (beider Vater war vor der Geburt verstorben. Durch 'Arnulf' wurden sie zum Herrscher.), sowie Karl dem Großen. Letzteren kennen wir aus den Reichsannalen (die 3 dort berichteten Sonnenfinsternisse waren allerdings erst im 10 Jh. zu beobachten!) und aus Einhards Biografie:
"Man könnte mich also mit Recht undankbar nennen, wenn ich die großartigen Taten dieses Mannes, der sich um mich so sehr verdient gemacht hat, stillschweigend überginge und es zuließe, daß sein Leben keine schriftliche Würdigung oder gebührende Anerkennung erhielte - ganz so, als hätte er nie existiert!"
Wie konnte Einhard (als Zeitgenossen von Karl III. kennen wir einen Bischof Einhard von Speyer) auf so eine Idee kommen? War der große Karl möglicherweise gar nicht König, sondern nur Hausmeier eines 'Einfältigen'?


Zurück zu Otto III.s Manipulation der Jahreszählung und seinem Besuch in Aachen:
Was noch fehlte, war ein Hinweis darauf, auf welche Weise Karl der Große von den Königen der Menapier abstammte und der zugleich den Aufstieg der Karolinger glaubhaft machte: Dies ließ sich mit wenigen unauffälligen Chroniken erledigen, wobei gleich auch Pippin der Ältere mit dem Abkömmling der Menapier Pippin von Landen gleichgesetzt wurde. Jener hatte demnach zusammen mit Arnulf v. Metz dem Merowinger Chlothar II. auf den Thron verholfen. Seine Nachfolger hätten den Königen als Hausmeier (Kanzler) gedient und dann schließlich selbst dieses Amt übernommen...

Mehr war nicht erforderlich, um die Chronologie des Abendlandes zu manipulieren! Der Rest geschah praktisch von selbst!
Hinzu kamen verklärende Hofberichterstattung, literarische Phantasie, Fälschungen zur nachträglichen Absicherung von Besitansprüchen und schließlich Betrug und Habgier. Aber an deren Einfluss auf die Urkunden zweifelt ja niemand...

HEK  12/08; 1/2011
-> jahr1000wen.de