Chronologie und Überlieferungen – Phantomzeit ohne Verschwörung

von Hans-E Korth
erschienen in Zeitensprünge 3/07, 724-743


»Wer wird zwischen uns entscheiden? Nur das Zeitverhältnis, 
indem die Zeit für das, was das Ältere ist, Autorität präskribirt
und gegen das, was als das Jüngere dastehen wird,               
das Präjudiz der Verfälschung erweckt.«  Tertullian (IV, Kap.4)

Abstrakt: Neue Beobachtungen bestätigen abermals die These vom erfundenen Frühmittelalter. Zugleich liefern sie Hinweise auf mögliche Motive und plausiblen Ablauf der dahinter stehenden Manipulationen. War das Streben Konstantinopels nach Priorität gegenüber Westrom und den nicht-trinitarischen Glaubenslehren der Anlass für die Verdoppelung der Herakleischen (Konstantinischen) Dynastie? Die Reaktion des Westens hierauf wäre die Wiederherstellung der Geschichte des Römerreiches gewesen – durch Vorverlegung um drei Jahrhunderte.

Millennium

Was geschah kurz vor der der Jahrtausendwende? Ein jugendlicher Kaiser Otto III. tritt mit seinen geistlichen und weltlichen Beratern an, zur 'Restitutio (Renovatio) Imperii Romanum'. Von Rom aus würde er, so stand zu erwarten, auf viele Jahrzehnte hin als ebenbürtiger Partner Konstantinopels das christliche Abendland regieren. Eine Entwicklung, die bald ein Jahrhundert zuvor begann, hatte den Machtbereich der Ottonen auf ein Vielfaches vergrößert. Voraussetzung dafür war die Organisation gemeinsamer Abwehr gegen die äußere Bedrohung durch die 'Ungarn' gewesen1, sowie der Aufbau und die Einbeziehung staatskirchlicher Verwaltungsstrukturen.

Mit dem Einzug von Otto III. in Rom waren die brutalen Machtkämpfe jedoch keineswegs beendet. Wenn wir die so 'passenden' Zeitpunkte des Ablebens der wichtigsten Protagonisten betrachten, dann deutet stets Einiges auf Gewaltanwendung hin:

996: Papst Johannes XV, dessen Hilferuf Otto III. nach Rom gerufen hatte, verstirbt wenige Wochen vor Ottos Eintreffen und der damit verbundenen Absetzung und Bestrafung seines Peinigers Johannes I. Crescentius.

997: Papst Gregor V, der Cousin des Kaisers wird von Crescentius abgesetzt.

998: Gegenpapst Johannes XVI. Philogatus wird verstümmelt, Crescentius durch Otto III. gehenkt.

999: Gregor V. stirbt unter ungeklärten Umständen. Wenige Monate zuvor datiert ein Brief des Leo von Vercelli, der den Papst dringend zur 'Bereinigung der Jahrhunderte' auffordert [Korth 2006].

1002: Otto III. stirbt in Paterno. Sein Charisma war Selbstbezichtigungen gewichen. Rom war verloren. Die Herzöge und Bischöfe Sachsens fühlten sich verraten. Er war nicht mehr tragbar.

1003: Papst Silvester II. stirbt in Rom. Er hatte Heinrich II zur Kaiserkrönung nach Rom gerufen und zur Hilfe gegen Johannes II. Crescentius. Heinrichs Italienzug war Wochen zuvor gescheitert.

1003: Kaum ein halbes Jahr später stirbt auch Papst Johannes XVII, eine Kreatur des Crescentius, kurz nachdem er Heinrich II. zur Kaiserkrönung nach Rom gebeten hatte.

1004: Der betagte Abbo von Fleury, führender Komputist seiner Zeit2, Ratgeber von Otto III, wird von Mönchen eines seiner Klöster bei einem Streit mit einer Lanze erstochen.

In diesem Umfeld sollte also die Erneuerung des Römerreiches stattfinden. Sie sollte dem Kaiserhaus die zum Erhalt der Macht erforderliche Tradition und Legitimität sichern. Unabdingbare Voraussetzung für den Bezug auf die ruhmreiche Geschichte Roms war selbstredend deren Widerspruchsfreiheit. Allem Anschein nach war diese zunächst nicht gegeben. Es bestand also Handlungsbedarf. Was war geschehen?

Exkurs nach Byzanz

Hinweise darauf, dass der Geschichtsverlängerung des Westens eine Geschichtsfälschung im östlichen Kaiserreich vorausgegangen war, wurden schon früh zusammengetragen [Illig WUG]. Als Protagonist dieser Aktion käme demnach wohl nur Konstantin VII. Porphyrogennetos in Frage. Jener wurde über Jahrzehnte durch seinen Onkel von den Regierungsgeschäften ferngehalten. Er war umfassend gebildet und nutzte seine Zeit zu vollständiger 'Erneuerung' der überkommenen Schriften, bei gleichzeitigem Wechsel zur Minuskelschrift. So ist die Überlieferung Ostroms praktisch nur in den unter Konstantin niedergeschriebenen Texten fassbar. Auch die Abfassung der beiden wichtigsten Geschichtswerke wurde durch ihn bestimmt: Neben der Theophaneschronik beschrieb er etliche historische Ereignisse in der für seinen Sohn bestimmten vertraulichen Schrift 'De Administrando Imperii'. Eigenartigerweise stehen die Überlieferungen dieser beiden Schriften an mehreren Stellen in Widerspruch zueinander [Friedrich].

Hatte also bereits Konstantin VII. drei Jahrhunderte in die Geschichtsschreibung eingefügt? Selbst wenn man diesem einen großzügigen Umgang mit den historischen Fakten zuschreiben darf, bliebt zunächst die Frage unzureichend geklärt, welche Motive einen derartigen Aufwand gerechtfertigt haben könnten. Die von Illig genannte Verschleierung des Kreuzesverlustes erscheint so wenig zwingend wie die Harmonisierung der Osterrechnung [Beaufort]. Ich möchte einen weiteren Gedanken anfügen: Ging es etwa schlicht um die Macht, um den Vorrang Konstantinopels?

Im Forum von www.fantomzeit.de hatte Jan Beaufort die Überlegungen Tertullians im Ringen um die religiöse Wahrheit zitiert: Die jeweils ältere Lehre kann keine Verfälschung der jüngeren sein! Im Zweifelsfall ist folglich die ältere Überlieferung als wahr anzuerkennen. Tertullian hatte einst gegen die Lehren Marcions mit der Zeitstellung argumentiert:

»Wenn wir erwiesen haben, dass unser Evangelium älter, das Marcionitische dagegen jünger sei, so wäre es höchst absurd, dass einerseits unser Evangelium schon als ein gefälschtes erscheinen sollte, bevor ein echtes ihm den Stoff dazu geliefert hatte, andererseits das Marcionitische durch das unsrige Widerspruch erfahren habe, bevor es herausgegeben war, und endlich drittens, dass das in höherem Grade als echt gelten soll, was spätem Ursprungs ist, nachdem bereits so viele wichtige Werke und Urkunden der christlichen Religion im Laufe der Zeit erschienen waren, die ohne ein echtes Evangelium, d. h. vor einem echten Evangelium, nicht hätten erscheinen können.« Tertullian (IV, Kap.4)

Konstantin Porphyrogennetos konnte sich diese Überlegungen verhältnismäßig einfach zunutze machen: Wenn er einen übermächtigen Kaiser 'Konstantin den Großen' vorweisen konnte, Herrscher des Weltreiches, Begründer des östlichen christlichen Kaiserhauses, Schiedsrichter zwischen den christlichen Gruppierungen und schließlich selbst getauft, so musste die Lehre des Islam gegenüber christlicher Trinität und Staatskirche als eine um Jahrhunderte verspätete Abweichung erscheinen.

Darüber hinaus wurde auch gleich der Arianismus zusammen mit Konstantin in eine weit zurückliegende Vergangenheit verschoben. Dessen Übereinstimmung mit dem Schiismus des Ali/Ari und anderen bilderfeindlichen Strömungen (z. B. der Paulikianer), die sich, im Abendland brutal verfolgt, unter den Schutz der islamischen Herrscher gestellt hatten, konnte bald nicht mehr wahrgenomen werden, sodass er schließlich in Vergessenheit geriet und verlosch.

Der verfrühte Große Konstantin konnte aber noch weit mehr bewirken: Durch ihn verlief die Geschichte des christlichen Konstantinopel nun parallel zum heidnischen Kaiserreich des alten Rom. Am Bosporus lag also nicht mehr der Rückzugsort des abgewirtschafteten Römertums, sondern ein von Anfang an ebenbürtiges, durch sein Christentum moralisch überlegenes imperiales Staatswesen.Abb.1

Damit ließ sich schließlich auch das Problem der seit Beginn des 10. Jh. immer engeren Bindung zwischen den Herrschern der Franken und dem Heiligen Stuhl im Sinne Ostroms beinflussen: In der 'Promissio Pippini' hatte letzterer (Pippin III, ein Klon des Pippin / Chlothar / Simplexkarl – s. u.) versprochen, die eroberten und noch zu erobernden byzantinischen Gebiete (Exarchat von Ravenna, Pentapolis) und den Dukat von Rom dem Papst zu übertragen. Mit Hilfe der 'Konstantinischen Schenkung' (vor dem Verlassen Roms hätte jener dem Papst das kaiserliche Palatium, die kaiserlichen Hoheitszeichen sowie 'Provinzen, Orte und Städte der Stadt Rom, und aller italischen bzw. westlichen Regionen' übereignet. Der römische Klerus erhielt Würde und Vorrechte des Senats) konnte das Faktum des Kirchenterritoriums mit der großherzigen Geste des großen Kaisers begründet werden.

Eine derartige Geschichtsrevision umzusetzen erforderte keinen sonderlich großen Aufwand: Es war zu diesem Zweck völlig ausreichend, die Überlieferungen zu Herakleios (Konstantin), einem der bedeutendsten Herrscher des Römerreiches, zu duplizieren und um mehrere Jahrhunderte vorzuverlegen. Da herausragende Taten und Prachtbauten dem Großen Konstantin zugeschrieben worden, verblieb dem Herakleios in der Überlieferung leider nur eine zwar lange und zumeist rechtschaffene, aber wenig strahlende Regentschaft. Angesichts der machtpoltischen Zielsetzung wäre ein Hinweis an die Herrscher in Rom wie in Ktesiphon, man habe die Geschichtsschreibung zu Gunsten Konstantinopels manipuliert, offensichtlich kontraproduktiv und daher undenkbar gewesen3.

Dass die obigen Überlegungen keineswegs spekulativ sind, zeigen die ungewöhnlich vielen Parallelen zwischen dem 7. Jahrhundert des Herakleios sowie seiner Nachfolger und dem 4. Jahrhundert des Großen Konstantin (Abb. 1).

Abb.2
Abb. 2: Sterbejahre West- und Oströmischer Kaiser. Der Abstand entspricht der Phantomzeit, womit vor deren Schaffung Gleichzeitigkeit bestand. Da Synchronizität mit den Überlieferungen unvereinbar ist, kann die Übereinstimmung nur durch Willkür entstanden sein.
Auffällig ist auch der zeitliche Abstand zwischen den Sterbejahren des Herakleios und des Konstantin I sowie deren Nachfolgern. Er beträgt stets 304 Jahre.

Eine weitere (und im Rahmen der konventionellen Chronologie vollends unverständliche) Parallelität zeigt Abbbildung 2: Zwischen den Todesdaten der Römischen Kaiser des 1. Jahrhunderts und denen Konstantins und seiner Nachfolger im 4. Jahrhundert besteht ein Abstand von jeweils 299 Jahren (bei Konstantin 300 Jahre). Bevor die Chronologiereform des Westens zum Millennium wirksam wurde, bestand demzufolge offenbar Gleichzeitigkeit. Die geklonten Kaiser des Ostens wären also, zumindest was ihre Sterbejahre angeht, mit jenen des Westens gleichgesetzt gewesen! Ein zufälliges Zusammentreffen dieser Art ist jedenfalls ausgesprochen unwahrscheinlich. Die Zuordnung betrifft alle Kaiser der beiden genannten Jahrhunderte – mit einer Ausnahme: Konstantin II. findet kein Pendant in den Römern Caligula, Claudius und Nero. Dies muss nicht verwundern, denn die Finsterlinge Caligula und Nero waren der 'damnatio memoriae' verfallen, während Kaiser Claudius als ignoranter und böswilliger Krüppel der Nachwelt überliefert wurde.

Restitutio Imperii Romanum

Im Westen musste der verdoppelte Konstantin | Herakleios allerdings die totale Verwirrung der Überlieferungen bewirken: Konstantin der Große hatte dort ja reale Spuren hinterlassen auf seinem Lebensweg, der von Serbien über Britannien, Ravenna, Rom, Mailand, Trier und viele weitere Stationen ihn schließlich nach Byzanz führte. In Rom war der überwiegend aus Spolien zusammengesetzte Konstantinsbogen zu bestaunen. Wie um alles in der Welt hätte dieser Konstantin ein Zeitgenosse des Kaisers Tiberius sein können?

Vielleicht erahnte man am Hofe von Otto III. die Geschichtsverfälschung von Byzanz (Immerhin verwarf Otto III im Jahre 1001 die 'Konstantinische Schenkung' als Fälschung. Sein Großvater hatte 962 im 'Privilegium Ottonianum' die Versprechen Pippins ausdrücklich erneuert). Das hätte jedoch nichts genutzt. Schließlich konnte man ja nicht anfragen, ob man dort eventuell bereit sei, seine Fälschung rückgängig zu machen und die historische Priorität des Westens zu respektieren. Da zu ebenjener Zeit gerade die Verhandlungen liefen, die Überlassung einer byzantinischen Prinzessin betreffend, zwecks Eheschließung mit Otto III, verboten sich Schritte in dieser Richtung von selbst.

Damit standen Otto III. und seine Berater nun vor dem Dilemma, dass sie keinerlei Möglichkeit hatten, den zeitlich korrekten Ablauf der Ereignisse für das gesamte römische Reich wiederherzustellen, dass andererseits aber auch die bestehende Geschichtsschreibung für sie inakzeptabel war. Ohne die Legitimation als Sachwalter des einstigen Imperiums blieb Otto III. jedoch bis auf Weiteres der Sprössling einer mächtig gewordenen Sachsensippe.

Schließlich wurde (wie die Belege zeigen) eine Lösung gefunden, die zwar nicht den wahren Zeitläuften entsprach (deren Richtigstellung ja in keinem Falle möglich schien), die aber zumindest die Geschichte des Römerreiches stimmig werden ließ: Die Geschichte Westroms war um drei Jahrhunderte zu veralten! Auf diese Weise rückte das Jahrhundert Konstantins des Großen, bezogen auf die Überlieferung des Westens, wieder an seinen richtigen Platz. Zugleich war der Vorrang jener frühen, glorreichen Kaiserzeit wieder hergestellt. Als Nebeneffekt konnte man so eine Zählung nach Inkarnationsjahren einführen, nach der das Millennium unmittelbar bevorstand. Dies versprach einen beträchtlichen propagandistischen Effekt, nicht zuletzt deshalb, weil nur wenigen der Unterschied zwischen dem tausendsten Jahr nach der Geburt des Erlösers und dem Jahrtausend der Endzeit der Johannesoffenbarung klar gewesen sein dürfte.

Offenbar scheiterte der Plan, das Millennium durch den Papst, Ottos Vetter Bruno verkünden zu lassen. Wenige Wochen nach Beginn des Jahres 700|999 verstarb dieser, 27 Jahre alt, mitten im Winter an der Malaria [sic!] - wie es heißt. Seinem Nachfolger, Gerbert von Aurillac gelang es, durch einfügen eines Säkularjahres [Lausser] die Jahrhundertwende und damit das Jahr 1000 auf das Folgejahr zu verschieben. Damit aber umfasste die Chronologiereform statt drei voller Jahrhunderte nur noch 299 Jahre, was praktisch niemandem mehr als notwendiger Schritt der Richtigstellung zu vermitteln war. Sich mit Konstantinopel hierüber auszutauschen versprach allenfalls diplomatische Verwicklungen.4

Sowohl in Byzanz wie auch in Rom gab es also zwingende Gründe, das Faktum der jeweiligen Abänderung der Geschichtsschreibung 'nur zum dienstlichen Gebrauch' zu kommunizieren.

Karolinger

Zu klären blieb in Rom noch die Frage, an welcher Stelle der Historie die 299 Phantomjahre der Reform Ottos eingefügt werden sollten. Es lag nahe, dass der Schnitt vor der Geburt der noch Lebenden liegen musste. Aber es ging noch besser: Die Usurpation der Macht in den Wirren der Jahre um 912 durch die fränkischen wie die sächsischen Herzöge ließ sich auf diese Weise gleichfalls verdecken. Dabei bot sich zugleich die Gelegenheit, deren Ahnenreihe eindrucksvoll zu strecken.

Drei Jahrhunderte Geschichte mit allen Herrschern, deren Angehörigen, Versippungen, Höflingen, politischen Verwicklungen etc. zu erfinden – das ist praktisch unmöglich5. Otto III. und seinen Beratern muss diese Schwierigkeit natürlich auch sofort aufgefallen sein! Erfinden geht nicht – wohl aber Klonen. Sind vor und nach der ins Auge gefassten Schnittstelle die Lebensdaten von z. B. je vier Generationen der Karolinger bekannt, so lassen sich diese leicht noch einmal in den fiktiven Zeitraum hinein projizieren (Abb. 3). Jeder Viererblock bleibt dabei mit allen Beziehungen in sich intakt.

Abb.3
Abb. 3: In die Phantomzeit hinein verdoppelte Namensfolgen der Menapier und Karolinger liefern die Struktur für fiktive Geschichte. Der stets gleiche Abstand der Lebensdaten über den Zeitsprung hinweg bestätigt die Identität realzeitlicher Herrscher über vier Generationen.

Ein derartiges Konzept ließ sich im Führungskreis kurzfristig bewerten und beschließen. Allenfalls mussten später Bearbeiter dafür sorgen, dass die Übereinstimmungen nicht zu sehr ins Auge sprangen. Aber das ließ sich delegieren. Die unvermeidliche Unstetigkeit der Überlieferung an den Übergangsstellen zwischen den Blöcken war ebenfalls leicht zu begründen: Ein behinderter Vater, der im Jahr der Geburt seines Sohnes verstarb (Ludwig d. Stammler – Karl d. Einf), oder ein kinderloser Herrscher, der den Sohn seiner Schwester zum Nachfolger ernannte (Pippin d. Ä. - Grimoald) lassen keine verbindenden Überlieferungen erwarten. Da dreihundert Jahre eher 10-11 Generationen umfassen, wurden schließlich noch drei abermals geklonte Herrscher hinzugefügt.

Stimmt diese Überlegung? Wenn das der Fall ist, dann müssten sich die Lebensdaten der Herrscher über die Phantomzeit hinweg um einen gleichen Betrag unterscheiden. Wie die Genealogie der Menapier/Karolinger6 zeigt, ist dies tatsächlich der Fall: So liegen gleichbleibend 299 Jahre zwischen

Aber hatte nicht A. Wirsching dargelegt, dass Chlothar II. mit Karl III, dem Einfältigen identisch sei?7 Offenbar ist auch diese Beobachtung korrekt! Die Gleichsetzung von Pippin d. Ä. mit Chlothar II. mag nur auf den ersten Blick überraschen. Pippin bedeutet 'Der Kleine' und war vermutlich ein Kosename. Chlothar II. hatte den gleichbedeutenden Beinahmen 'Der Junge'.

Der Überlieferung nach hat Pippin d. Ä. zusammen mit Arnulf von Metz freundlicherweise dafür gesorgt, dass der Merowinger Chlothar (= Der Gepriesene) zum König gekrönt wurde. Allerdings war dessen Abstammung offenbar schon früh angezweifelt worden: 

Abb.4
Abb. 4: Die Protagonisten des Übergangs der Herrschaft von den Merowingern zu Karolingern und Ottonen finden sich vor und nach der 'Phantomzeit'.
Seine Mutter, die sonst wenig zimperliche Fredegunde, hatte vor drei Bischöfen und dreihundert Edlen die Vaterschaft des früh verstorbenen Merowingers Chilperich8 beschwören müssen – so wird es zumindest berichtet.

 Wer war Arnulf von Metz? Den 'Nachnamen' erhielt er erst als Bischof von Metz in der Phantomzeit nach 612. Seine Abstammung ist jedoch völlig unbekannt. Könnte er ein Halbbruder von Pippin d. Ä. gewesen sein? Das würde die Kooperation der beiden beim Kampf um den Thron der Merowinger verständlich machen. Findet sich eine Spur von ihm auch nach dem Jahr 911? Da wird Heinrich zum Herzog der Sachsen, später zum König. Thietmar von Merseburg bezeichnet Heinrich I. als 'nepos' sowie als 'proximus' von Karl dem Einfältigen, was bei den nahezu gleichaltrigen durchaus auf Halbbrüder hindeuten kann. Und der Vater Heinrichs, Otto der Erlauchte verstarb genau 299 Jahre nach Pippin des Älteren Vater Carloman v. Landen (Abb. 4)!

Was wurde schließlich aus den Merowingern? Theudebert II. erlitt 612 eine verheerende Niederlage gegen die Awaren und wurde kurz darauf nach der Schlacht bei Zülpich ermordet. 299 Jahre später wiederholen sich die Ereignisse: Nach einer verheerenden Niederlage gegen die Ungarn stirbt Ludwig, genannt Das Kind, ein illegitimer Sohn des Arnulf von Kärnten der Phantomzeit (dem auch Karl der Einfältige seine Königskrone verdankte). Mit den Menapiern und Karolingern verbinden sich die Ortsamen Landen, Herstal, Aachen und Zülpich, jeweils einen Tagesmarsch voneinander entfernt. Da erscheint das Land Kärnten recht abgelegen. Kerpen (Kerpinna) hingegen liegt knapp drei Stunden Fußmarsches von Zülpich entfernt. Als 'illegitimes Kind' Arnulfs (von Kerpen), des Stammvaters der Karolinger, wäre Ludwig, das Kind (der Phantomzeit) in der Tat richtig beschrieben. Der durch die 'Phantomzeit' überbrückte Schnitt markiert somit genau jenen Zeitpunkt, zu dem die Regentschaft der Merowinger im Blutrausch endete. Fortan herrschten unvermittelt Karolinger- und die Sachsenkönige. Die unschönen Einzelheiten ihrer Machtergreifung wurden, wie wir nun sehen, durch die wohlbedachte Wahl des Zeitsprunges über mehr als ein Jahrtausend erfolgreich verschleiert!

299 Jahre?

Abb.5
Abb. 5: Häufigkeitsverteilung von Beobachtungen zur Länge der Phantomzeit.

Wie viele Jahreszahlen umfasst die Spanne fiktiver Zeit nun genau? Die Lücken zwischen den fränkischen Sippschaften um den Zeitsprung sprechen mehrheitlich für 299 Jahre (Abb. 5). Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Zwischen Konstantin I und Herakleios I und deren Nachfolgern klaffen 304 Jahre. Um das Maximum bei 299 herum häufen sich jedenfalls die Werte. Bei der Bewertung der 'statistischen' Verteilung ist jedoch auch die unterschiedliche Qualität der einzelnen Beobachtungen, sowie die subjektive und jedenfalls unvollständige Auswahl in Betracht zu ziehen. Die Häufung der glatten '300' mag auf Rundungen nicht jahrgenau bekannter Beziehungen zurückzuführen sein. Plausibel ist auch ein Phantomzeitintervall von 297 Jahren, u. a. als Konstrukt aus neun Generationen à 33 Jahre [Illig 2003], oder aus den elf Generationen geklonter Karolinger zu (im Mittel) je 27 Jahren.

Die ebenfalls beobachteten, um bis zu einem Jahrhundert kürzeren Werte für die Geschichtslücke finden eine einfache Erklärung darin, dass dort ein Teil der Überlieferung der Phantomzeit für real erachtet wird, wodurch sich diese entsprechend verkürzt.

Fazit

Illigs Phantomzeitthese lässt sich, bei minimalen Korrekturen, zu einem durchgehend stimmigen Geschichtsmodell ergänzen:

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Nachtrag – Wann wurde eigentlich Julius Cäsar gemeuchelt?

Die Schriftsteller der Antike sind gleicher Meinung: »Nach ihnen [Plinius, Plutarch] schien die Sonne viele Monate lang mit getrübtem Licht, vor allem beim Aufgang; es blieb kühl und die Ernte reifte nicht. Das weist deutlich auf eine Trübung der Atmosphäre, auch wenn diese sich nicht näher fassen lässt. In unbestimmter Art spricht Vergil im Zusammenhang mit Cäsars Tod von dieser Erscheinung, und bringt mit Furcht vor 'ewiger Nacht' lediglich eine Steigerung des Verfinsterungsgrades hinrein.« [Demant]9

Die Beschreibung stimmt nur zu gut mit anderen Berichten über die Folgen von das Klima beeinflussenden Vulkan-Eruptionen überein. Demnach sollte es für das Jahr von Cäsars Tod auch einen Nachweis im vulkanischen Sulfat der grönländischen Eiskerne geben. Und es findet sich in der Tat für das Jahr 1993 bp (44 v. Chr.) ein hoher SO4-Wert von 39 ppb (GISP2). Dreihundert Jahre später, im Jahrzehnt um 1693 bp, zeigt sich jedoch nichts. Der SO4-Wert beträgt stets 0 ppb.

Wären demnach zwischen Cäsars Tod und dem Aufstieg des Augustus mehr als 300 Jahre vergangen? Einen derart frivolen Gedanken auch nur zu erwägen, verbietet sich gewiss für jeden, dem die Schule die römische Antike wenigstens die Grundzüge nahe gebracht hat. Beschränken wir uns deshalb vorsichtshalber auf einige unverfängliche Beobachtungen:

1. Alle Untersuchungen zur Phantomzeitthese (Dendrochronologie, biographische Parallelen, astronomische Datierung der Johannesoffenbarung, etc.) deuten darauf hin, dass die römische Geschichstsschreibung einschließlich der frühen Kaiserzeit um drei Jahrhunderte veraltet wurde. Die Berichte über Sonnentrübung und Klimaeinbruch in Cäsars Todesjahr stehen demgegenüber in vollem Einklang mit der Überlieferung.

2. Startprobleme des Julianisches Kalenders: »Innerhalb der nächsten 36 Jahre bis zur Korrektur durch Augustus im Jahre 8 v.Chr. wurde dreimal zuviel geschaltet« [Malitz]. Oder es wurde doch korrekt geschaltet – über dreieinhalb Jahrhunderte, was nach der Schaltvorschrift Cäsars ebenfalls zu drei überzähligen Schaltungen führt.

Abb.7
Abb. 7: Vergleicht Plutarch Zeitgenossen? Die Sterbejahre der datierbaren Biografien erstrecken sich über einen Zeitraum von 520 Jahren. In 10 (von 20) Fällen weichen sie innerhalb einer Spanne von 284 +/- 40 Jahren voneinander ab. Zwischen einem und zwei Jh. Abstand gibt es keine Zuordnung.


3. Plutarch ist für seine vergleichenden Doppelbiografien bekannt, in denen er Hellenen und Römer gegenüberstellt. Nahe liegend wäre es gewesen, hierfür Zeitgenossen oder zumindest zeitnahe Protagonisten zu wählen (Gedankenspiel: Wen könnte ein heutiger Schriftsteller mit einer Gegenüberstellung z. B. der Entdecker Kolumbus und John Franklin beeindrucken oder mit dem Vergleich von Wallenstein mit Hindenburg?). Wären die hellenischen Biografien Plutarchs dagegen nachträglich (z. B. über die Zählung der Olympiaden) mitverschoben, so wäre eine Häufung um den Wert von etwa dreihundert Jahren zu erwarten. Wo Römer mit Römern oder Griechen mit Griechen verglichen werden, bliebe der Zeitunterschied gering. Im mittleren Bereich, also zwischen hundert und zweihundert Jahren wären keine Vergleiche zu erwarten. Abb. 7 zeigt es: Genau dies ist der Fall!

4. Der gute Titus Livius wäre rehabilitiert, der im Verdacht steht, die Geschichte Roms durch Wiederverwendung späterer Ereignisse verlängert zu haben. Er rechnete von Augustus zurück, die Historiker hingegen von Cäsar (Oder sie beziehen sich auf Synchronismen zum veralteten Griechenland, was aufs Gleiche herausläuft):

- 'Ein Schuldenerlass von -376 entspricht Cäsars Verfügung von -47'.

- Die panische Furcht vor den Galliern, der 'metus gallicus' nach der Niederlage -390 soll noch bis zu Cäsars Siegen die Römer beherrscht haben. Eine Generation sollte doch eigentlich ausreichen? Cäsars auf Vernichtung der Gallier angelegter Feldzug würde so immerhin verständlicher.

5. Hieron I, †466 v. Chr. vs Hieron II, †215 v. Chr. und andere Doubletten finden sich beim Vergleich alter Münzen. [P.C.Martin]

6. Die Skulpturen 'der frühen Kaiserzeit' in der Höhle von Sperlonga sollen perfektionierte Kopien mehrere Jahrhunderte älterer hellenischer Originale sein [Illig 2000].

7. Einmal angenommen, die 'Restitutio Imperii Romanum' unter Otto III hätte die Überlagerung der Real-Geschichte durch die Kaiserzeit des 1.-3. Jh. zur Folge gehabt. Dann würden sich die jener Zeit zugeordneten Funde häufen, während zugleich die vorchristlichen Jahrhunderte weder in Italien noch im Herrschaftsgebiet der Seleukiden nennenswerte Überbleibsel liefern würden. Außerdem würde vermerkt, dass über die gesamte Zeitspanne offenbar nur geringe Fortschritte im künstlerischen Ausdruck stattgefunden hätten, wobei auch keine eindeutigen Entwicklungen nachzuweisen wären. So würde sich vieles erklären!

Und was geschah tatsächlich in der Zeit zwischen Cäsar und Augustus? Leider sind die entsprechenden Aufzeichnungen des Livius und anderer Autoren nicht erhalten. So bleibt nur der Versuch, Rückschlüsse aus den Berichten über die Selukidenzeit zu ziehen, die, genau wie die römische Kaiserzeit, in Wirklichkeit ebenfalls drei Jahrunderte später stattgefunden hätte. Die Geschichtlichkeit des Julius Cäsar dürfte dabei kaum anzuzweifeln sein. Was von seinem Ägyptenzug überliefert ist, scheint allerdings etliche durchaus märchenhafte Elemente zu beinhalten.



Quellenangaben

Gisela Albrecht: Livius und die frühe römische Republik, Zeitensprünge (ZS) 3/95, 222-246

Beaufort Wer erfindet historische Zeit? Überlegungen zum Motiv der mittelalterlichen Zeitfälschung, ZS 2/07, 317-332

Andreas Birken: Byzantinische Phantomzeit und Islam ZS 3/02, 488-511

Regnum Chlotharii. Welcher Lothar gab Lothringen den Namen? ZS 3/04, 566-573

D. Demandt: Verformungstendenzen in der Überlieferung antiker Sonnen- und Mondfinsternisse, Akademie der Wissenschaften und Literatur 1970

Volker Friedrich: Zur Zeitstellung Karls des Großen ZS 2/06, 417-434

Gunnar Heinsohn: Karl der Einfältige – Imitator oder Urmuster? ZS 4/01, 631-661.

Paul Hirsch: Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei, MGH, Hannover 1935, http://www.dmgh.de

Heribert Illig: Wer hat an der Uhr gedreht, München, 2000, S.181ff

-: Chronologische Irrfahrten des Odysseus. Hellenistische Fragezeichen, ZS 3/00, 384-390

-: Zum Zeitsprung bei Christen und Moslems, ZS 3/03, 556-569

-: 297 Jahre – zur Länge der Phantomzeit, ZS 3/06, 765-776

Hans-E. Korth: Ein Schreiben des Leo von Vercelli, ZS 2/06, 410-4164

-: Zur Chronologie des Abendlandes, ZS 18,1, S.164-184

-: Gerbert von Aurillac † 12. Mai 1003, ZS 1/03, 209-221

Abbé Lausser: Gerbert – Étude historique sur le dixième siècle, Aurillac, 1866

Jürgen Malitz: Die Kalenderreform Caesars. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Spätzeit. Ancient Society, 18, 1987, S. 103 – 131. http://www.gnomon.ku-eichstaett.de/LAG/kalender.html

Paul C. Martin: Wie stark erhellen Münzen die „dark ages“ in Italien? Numismatik versus Illigs Thesen. Teil III: Die Goldmünzen der römischen Republik, ZS 3/95, 247-268

Klaus Weissgerber: Ungarns wirkliche Frühgeschichte, München, 2003

Armin Wirsching: Merowinger, Karolinger und Ottonen unter der Erde vereint. Frühmittelalterliche Reihengräberfelder wurden bis 1000 belegt, ZS 3/04, 574-590


Anmerkungen:

1Es darf vermutet werden, dass es in Konstantinopel nicht ohne Wohlgefallen gesehen wurde, wenn die zunehmend unkontrollierbaren Franken in Konflikte mit ihren östlichen Nachbarn verwickelt wurden. Ungarn und Avaren sind laut Widukind von Corvey gleichsinnige Bezeichnungen ('Avares quos modo Ungarios vocamos', 'Ungarii qui et Avares dicuntur').

2Das wichtigste Werk des 'abaci doctor' Abbo von Fleury war der 978 nach 25-jähriger Arbeit fertig gestellte 'Computus vulgaris' mit einer Tafel der Osterfeste von Christi Geburt bis zum Jahr 1595. Eine Geschichtsverschiebung vor 978 wird also eher unwahrscheinlich, folgt man der Aussage: 'Nur ein Komputist kann auf die Idee kommen, den historischen Zeitrahmen und damit Geschichte überhaupt beliebig zu konstruieren'. [Beaufort]

3Ob die weiteren, in der Überlieferung Ostroms zu findenden Verdopplungen im Abstand von jeweils drei Jahrhunderten (z. T. auch von zweien) ebenfalls auf Porphyrogennetos zurückgehen, wird sich nicht ohne Weiteres klären lassen. Sie könnten absichtsvoll eingefügt worden sein, um wenig glorreiche Zeiten mit dem Abglanz strahlender Kaiser zu überdecken. Wahrscheinlicher aber erscheint mir, dass infolge der unerkannt auseinander klaffenden Zeitachsen in Ost und West die Überlieferungen jeweils nach bestem Wissen eingeordnet wurden, wobei es dann zu den scheinbar verdoppelten Ereignissen kam.

4Dafür, dass die Kalenderreform beim Tode von Otto III. noch nicht abgeschlossen war, spricht die Klage des Leo von Vercelli 'Sub caesaris absentia sunt turbata saecula' in seinen Gedicht an Heinrich II, welches die Strophe 'Sub caesaris potentia purget papa saecula' der ursprünglich an Gregor V gerichteten Schrift ins Gegenteil verkehrt.

5...und wurde durchaus zu Recht als ernst zu nehmendes Argument gegen die Phantomzeitthese vorgebracht.

6E. Friedrich hatte auf die wahrscheinliche Abstammung der Pippin des Älteren und damit der Karolinger von den Menapiern des Haspengaues um den Ort Landen hingewiesen.

7Wirsching erwähnt auch, dass Pippin d. Ä. am Hofe Chlothars auch den Namen Karl trug.

8Gregor von Tours (†594) hat Chilperichs Sohn nur noch als kleines Kind erwähnt [Birken].

9Kaum hatte ich diesen Aufsatz fertig gestellt und abgesandt, da blieb mein Blick eher zufällig an dem Zitat von Demand hängen. Die daraus folgenden Überlegungen scheinen mir im Zusammenhang mit dem zuvor Niedergeschriebenen von allgemeinem Interesse. Der Herausgeber sei daher um Nachsicht gebeten...

-> jahr1000wen.de